Vom Verkehrsraum zum Lebensraum – ein französisches Erfolgsmodell
von Robert Schrempf

Vom Verkehrsraum zum Lebensraum – ein französisches Erfolgsmodell

Vom Verkehrsraum zum Lebensraum – ein französisches Erfolgsmodell 1024 576 Verein Pro Gmundner Straßenbahn

Seit Mitte der 1980er-Jahre entstehen in französischen Städten mit großem Erfolg neue Straßenbahnsysteme. Kennzeichnend ist vor allem die Vorgangsweise, die Straßenbahn als Instrument für städtebauliche Aufwertungsmaßnahmen und für die Belebung der (Innen-) Städte zu nützen.

Hervorragend gelungen ist dies beispielsweise in Besançon, jener Stadt, welche dank ihres reichen historischen und kulturellen Erbes und ihrer einzigartigen Architektur seit 1986 die Auszeichnung „Stadt der Kunst und Geschichte“ trägt und die militärischen Befestigungsanlagen zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen. Die Straßenbahn führt durch die malerische Altstadt, die in einer Schleife des Flusses Doubs gelegen ist. Bemerkenswert ist die Überquerung des Doubs vor der Kirche Sainte-Madeleine (Bild oben), die Tramtrasse verläuft aufgrund der engen Platzverhältnisse in einem S-Bogen über die verbreiterte Brücke.

In den 1970er-Jahren waren Straßenbahnen aus Frankreichs Städten fast völlig verschwunden. Gab es 1977 nur noch drei schienengebundene Netze mit jeweils einer Linie, so stieg deren Anzahl bis 2013 auf 26 Netze und 60 Linien. Bis 2020 sollen es 30 Netze und mehr als 80 Linien sein. Nach drei Jahrzehnten reger Bautätigkeit lässt sich sagen, die Neugestaltung der (Innen-) Städte samt Änderung der Mobilitätskultur ist gelungen. Die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs ist in den Städten mit Straßenbahn im Schnitt mehr als doppelt so hoch als in den wenigen noch verbliebenen Städten mit ausschließlich Buslinien. Der hohe ästhetische Anspruch, aber auch die Umverteilung des öffentlichen Raums sorgt nach anfänglicher Kritik für eine große Beliebtheit in der Bevölkerung. Herr Dipl.-Ing. Yo Kaminagai, Chefplaner des französischen Verkehrsunternehmens RATP (Paris), erzählte uns von den 30 „glorreichen“ Jahren.

Strategie für eine attraktive Stadtentwicklung

Als Erfolgsfaktoren für die beeindruckende Entwicklung nannte Herr Kaminagai die hochwertige Gestaltung der Trasse sowie der Haltestellen- und Stadtmöblierung, die Erneuerung des Umfelds von Fassade zu Fassade, die Aufstellung Zeitgenössische Kunstwerke im öffentlichen Raum, die Personalisierung durch den Einsatz charakteristischer Designerfahrzeuge und die daraus entstehende neue visuelle Identität für die Verkehrsunternehmen. Es entstand daraus eine Taktik und Strategie für eine attraktive Stadtentwicklung, welche auch die Wichtigkeit und die Wirksamkeit des Designs unterstreicht. Es bietet ein starkes Mittel, um das Stadtimage zu wechseln und die Mobilitätskultur zu erneuern. Frankreichs Straßenbahnsysteme schaffen eine Atmosphäre, die Viele mit Kunst im öffentlichen Raum vergleichen.

Frankreichs Bauboom lässt sich in drei Perioden einteilen:

  • 1990: Design als Taktik um die Akzeptanz der Projekte zu erhöhen
  • 2000: Stadtplanungsprojekte fast wichtiger als Verkehrsprojekte
  • 2010: Wirtschaftliche Rationalisierung

Neuaufteilung des öffentlichen Raums

Richtungsweisend und Voraussetzung für die rasante Entwicklung war der Entschluss des Staates, die Errichtung auf Eigentrasse verkehrender Nahverkehrssysteme, welche die Integration in eine gesamtstädtische Strategie, den Zielen des Umweltschutzes und der Verkehrsverlagerung vorsehen, zu fördern. Die Verkehrsbelastung war vielerorts schon groß, die Lebensqualität stark beeinträchtigt. Vor allem auf den Stammstrecken im Stadtkern verkehrten zuvor in vielen Städten Busse dicht hintereinander. Die daraus entstandene Lärmbelästigung und Flächeninanspruchnahme wurde zunehmend kritisch gesehen. Die steigende Fahrgastnachfrage, verstärkt durch gegenseitige Behinderung zwischen Bus- und Autoverkehr, führte zu einem Absinken der Reisegeschwindigkeit und Fahrplantreue. Die Lösung brachte eine Neuaufteilung des öffentlichen Raums. Parallel mit der Neugestaltung ganzer Straßenzüge und Plätze wird der Autoverkehr in den Innenstädten redimensioniert, Eigentrassen für Tram- und Spurbussysteme geschaffen und einhergehend mit der Verschönerung des öffentlichen Raums die Flächen für Fußgänger und Radfahrer ausgeweitet.

Rückblickend betrachtet machte auch die Schaffung neuer Finanzierungs- und Organisationsstrukturen, wie etwa die Einführung der Nahverkehrsabgabe „Versement Transport“, die von Arbeitgebern mit mehr als neun Beschäftigten eingehoben wird, den Bauboom möglich. Die Transportsteuer (bis zu 2,6% der Lohnsumme) sichert planbare Investitionsmittel, damit können die Kommunen die Betriebskostenunterdeckung der öffentlichen Verkehrsbetriebe ausgleichen und neue Infrastruktur finanzieren. Die Nahverkehrsabgabe baut auf der Überlegung auf, dass der volkswirtschaftliche Nutzen eines gut ausgebauten ÖPNV zum Teil von den Begünstigten zu finanzieren ist. Die Arbeitgeber als Nutznießer können, wenn Kunden und Angestellte mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen, die Aufwendungen für Filialen und Parkplätze reduzieren. Zudem geht es bei den Projekten zu einem Gutteil auch um Umwegrentabilität, die Änderung der Verkehrskultur belebt die lokale Infrastruktur und Wirtschaft.

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